Dran glauben 

 

Die Backsteinmauern atmen und saugen den Nebel durstig in ihre jahrhundertealten Kapillaren. Sie pfeifen durch die Schießschartenzahnlücken, läuten verhalten eine windbewegte Glockenstimme im knarrenden Gebälk. Im Betonherzen des Turms, dessen altes Inneres der letzte Krieg in Stücke riss, flattern Tauben und lassen sich nieder wie nie zu Ende geführte Gedanken eines sehr alten Wesens.

 

Danzig ist kalt im April. Die grünspanverfärbten Metallfahnen der Marienkirche quietschen hoch oben im sich drehenden Wind, die Pfützen liegen als trübe Spiegel da. Kaum jemand verirrt sich in das zugige Treppenhaus mit den 409 Stufen, um, oben angelangt, nichts zu sehen als Grau. Man sieht im Nebel nicht die vielen schmalen hohen Giebel der nach dem Krieg wiederauferstandenen Altstadt, in ihrer Vielfarbigkeit ein Kontrast zu den steinernen Beischlägen, den kleinen vorgelagerten Treppen mit Podest und Geländer, mit Steinkugeln und Zierrat. Man sieht auch nicht die meist roten Dächer, nicht die hohen Kräne der Werft, nicht die Hotelbauten des aufstrebenden Heute, das doch nicht an die Größe der Bazylika Mariacka heranreicht.

 

Über ihr liegt nur der Himmel, der mal deutsch, mal russisch, mal polnisch sein sollte und sich letztendlich doch nie vereinnahmen ließ; an ihrer Fassade hängt, als flüchtiger, kleinerer Schatten des Turms, ein Gerüst, zwischen dessen klammen Eisenstangen und feuchten Brettern Restauratoren steiffingerig die verwitternden Fugen neu mit Mörtel füllen; zu ihren Füßen leben die Menschen insektengleich kurze Leben, in den Bernsteinläden, in der kleinen Polizeiwache, auf der Straße.

 

Es ist kein guter Tag zum Betteln vor der Kirche. Ein Freitag ohne Kirchgänger, ein nebliger Tag mit wenigen Passanten. Dennoch sitzen sie vor dem Portal, Mutter und Kind, sie kniet, hält das Baby auf dem Schoß, wiegt sich vor und zurück und träumt vielleicht von einem besseren Leben, das sie nie haben wird, von Reichtum, der ihre kleine Existenz golden umfließt wie Baumharz und Unsterblichkeit, oder wenigstens von Sonne, aber wahrscheinlich träumt sie nicht mehr.

 

Da ist noch ein zweites Kind: Tereza. Es gehört auch zu ihr, ist dunkeläugig und dunkelhaarig wie sie, doch es treibt von ihr weg, immer weiter, zu den Auslagen der Andenkenläden, zu den Spieluhren: Kleine Kästchen aus hellem Holz, mit einer metallenen Kurbel und einem ebensolchen Spielwerk im Inneren, das man durch die kleine Scheibe im Deckel sehen kann. Jedes Kästchen trägt eine andere Melodie, ein anderes Geheimnis in sich, aufgeklebte Etiketten auf den weißen Kartons verraten sie. Swan Lake, Schwanensee, steht auf dem, den Tereza nun in die Hand nimmt, der Händler schaut argwöhnisch zu ihr herüber, während sie die Kurbel dreht.

 

Tereza kennt die Melodie nicht, weiß nicht, wie schnell sie drehen muss. Schwermütig, zögerlich klingen die Töne langsam; mit steigendem Tempo locken sie, machen dem rumänischen Mädchen ungekannten Mut, lassen es die Spieluhr fester greifen und langsam mit den Händen voller Musik vor dem Händler zurückweichen, der nun von seinem Platz aufsteht. Tereza könnte nicht bezahlen, selbst wenn sie wollte, sie besitzt keinen Zloty. Besäße sie nur ein paar Groscy, würde Valeriu sie ihr abnehmen, er hat seine Methoden, niemand hintergeht ihn zweimal: Mutter hatte er auch geschlagen, als sie schwanger war. Doch gerade jetzt ist Valeriu ganz weit weg, alles ist weit weg, nur das etwas raue Holz in ihren Händen ist real.

 

Der Zufall hilft ihr: Ein Kunde tritt an den Stand und fragt den Verkäufer etwas, im selben Moment bricht für einen Augenblick ein Sonnenstrahl durch den dichten Nebel, die Männer wenden die Köpfe nach oben und blinzeln in diese Andeutung von Frühling, Tereza dreht sich auf dem Absatz um und rennt. Hinter ihr schreit es zweistimmig, sie versteht nicht viel, doch das Wort: „Policja!“ greift nach ihr, packt sie an den wehenden Haaren, und sie rennt schneller. Nicht zu Mutter und dem Baby, bloß keine Gefahr über sie bringen!, einmal außen herum an der Backsteinmauer – sind das laufende Männerschuhe hinter ihr? Tacktacktack macht es auf dem Pflaster! – Ein schweres Portal neben ihr öffnet sich, eine Frau tritt heraus, und Tereza eilt in die Kirche. Nur, wo verstecken? Und vor wem? Das Gesicht des Händlers würde sie erkennen, den anderen Mann hat sie nicht angesehen.  Jeder könnte der sein, der sie sucht.

 

Tereza ist nicht sehr groß für ihr Alter, sie ist zehn, aber die Kirchenbänke bieten nicht genug Schutz. Doch der von außen an die Scheiben drückende Nebel, das gedämpfte Licht und die mehreckigen Säulen helfen ihr; ihr Fluchtweg mäandert über die in den Boden eingelassenen alten Grabplatten, in einen Nebenraum, vorbei an Heiligen und Engeln, die ihr nicht helfen werden, denn sie hat gestohlen. Mit Schrecken betrachtet sie kurz eine Darstellung des Jüngsten Gerichts: Der strenge Blick Jesu erinnert sie an den des Andenkenhändlers; der Geruch heruntergebrannter Kerzen mischt sich in die Darstellung schmetterlingsflügliger Teufel, die ins Höllenfeuer stürzende Menschen umflattern. Das Altarbild ist zwar nur eine Kopie, ein farbiges Zitat, doch für Tereza geradezu eine fotorealistische Drohung. Es wundert sie nicht, dass die musizierenden Engel links auf den Dächern des Himmlischen Jerusalem sie nicht ansehen: Sie ist es nicht wert. Wer sie allerdings ansieht, zielgerichtet, einmal quer durchs Kirchenschiff, ist ein Fremder – vielleicht der Kunde von draußen?, und Tereza drückt sich hinter die nächste Säule, huscht weiter, gelangt zu der Tür, durch die es in den Turm geht.

 

Die Frau an der Kasse reicht gerade einem Paar einen Prospekt, das Mädchen duckt sich, über der Tür ein Schild: UWAGA! – Achtung!, kann sie nicht mehr aufhalten, der Turm atmet sie ein. Er saugt sie in seine pfeifenden Lungen, Stufe um Stufe erklimmt sie umgeben von seiner hohlen Stimme, erst die gemauerte Wendeltreppe, dann die Betontreppen Richtung Himmel, fort von Valeriu, von „Policja!“, von den Teufeln. In den Lüftungsöffnungen wehen Spinnweben wie zerfetzte Vorhänge. Das Geländer ist kalt; in der anderen Hand hält Tereza die Spieluhr, hält sich an ihr fest, trotzig, doch der Weg wird immer beschwerlicher, die Stufen scheinen steiler zu werden, der Turm mit jedem ihrer Schritte noch zu wachsen. Es ist eine Buße, die ihre Beine schmerzen lässt, die ihr Seitenstiche auferlegt und knappen Atem, während die Mauern um sie herum lauter zu heulen scheinen, je höher sie kommt.

 

Auf dem vorletzten Absatz sitzt ein Mann wie ein Wächter. Er hat seinen Schal bis über die Nase gezogen, seine Augen bohren sich in Tereza, weitere Augen aus Glas neben ihm tun es ihm nach. Er vermietet Ferngläser, ein schlechtes Geschäft an einem nebligen Tag wie diesem, und seine Ferngläser schauen den Neuankömmling mindestens so böse an wie er. Ein ungnädiger Petrus, an dem das Mädchen sich mit klopfendem Herzen vorbeidrückt. Oben steht sie unvermittelt in einer Wolke. Nur eine Metallfahne ist schemenhaft auszumachen, als liege sie unter Wasser; der Nebel schmeckt nach dem Meer, das seine Finger nach der Stadt ausstreckt.

 

Tereza hockt sich in eine Ecke auf den Stuhl, den der Fernglasverleiher bei gutem Wetter benutzt. Doch sie ist nicht allein. Im Nebel über ihr sitzt jemand rittlings auf der mannshohen Drahtabsperrung, die einen Sturz verhindern soll und dem Kletterer gerade deshalb hinderlich ist. Er will fallen, springen, gerade heute, wo der Nebel die Höhe gnädig verhüllt. Mikael ist wie Tereza fremd in Polen, doch noch fremder ist er sich selbst geworden und den Menschen. Er versteht sie nicht mehr, wie sie gegen den Tod ansingen, anvögeln, anfeiern, und sie verstehen ihn nicht, dem der Sinn dafür abhandengekommen ist. Mikael hält seinen Geigenkasten fest wie Tereza ihre Spieluhr, der Kasten balanciert ihn aus, hält ihn noch oben auf dem Zaun; wenn er den Kasten hinüberschwingt, werden die Gewichtsverlagerung und die Bewegung ihn hinunterstürzen. – Sicher, die Kollegen werden wohl um ihn trauern; aber mehr noch, da ist sich Mikael sicher, werden sie die Stradivari beweinen, und empört werden sie sein, weil sie in zweierlei Hinsicht eine neue Geige finden müssen, so kurz vor der Premiere.

 

Diese Aussicht beflügelt ihn, fast gesellen sich Bitterkeit und Schadenfreude zu seiner Entschlossenheit, da erklingt die Schwanensee-Melodie einen Meter unter ihm, und er gerät ins Straucheln. Ruckartig lehnt er sich auf die sichere Seite, ohne nachzudenken, und schaut auf Tereza, die ihn auch jetzt erst bemerkt, und für die es so aussieht, als steige da jemand von außen, aus dem blanken, nebligen Nichts, zu ihr herüber. Beide starren sich an. Es ist eine Sache, sich umzubringen, und eine andere, es unter den Augen eines Kindes zu tun. Mikael denkt kurz darüber nach, seufzt, und steigt dann so würdevoll wie möglich zurück auf die Plattform, sein langer Mantel rauscht hinter ihm her und bläht sich im Wind. Tereza ist sprachlos.

 

„Dzien dobry“, guten Tag, sagt Mikael, etwas Besseres fällt ihm nicht ein, „Dzien dobry“, echot Tereza vorsichtig. Sie schielt zu seinem Geigenkasten. Mikael möchte am liebsten hinunterrennen, doch er bleibt stehen, unschlüssig, wie festgewachsen. Dann, unter dem Blick des Mädchens, packt er kurzentschlossen die Geige aus, sie muss jetzt noch zu etwas gut sein, soll es doch so aussehen, als habe er hier oben nur spielen wollen.

 

Und er spielt, beginnt mit der Schwanensee-Melodie und leitet mühelos über zu anderen Stücken, in 82 m Höhe sind er und Tereza allein, eingehüllt in einen Kokon aus Nebel und Musik.  Dann geht er; wortlos, mit einem Nicken und einem Lächeln. Geht vorerst zurück in die Welt der Konzertsäle und der Kulturteile der Zeitungen, die Tereza nie lesen wird, und es ist ungewiss, wie lange er noch lebt. Tereza ihrerseits steigt nach einer Weile benommenen Dasitzens ebenfalls hinunter und gibt dem Händler die Spieluhr zurück. Und für den Rest ihres Lebens wird sie glauben, sie habe oben auf der Marienkirche einen Engel gesehen.